Les Maries du Rhin

Die Rheinischen Madonnen und ihre Lieder

 

Den Titel „Les Maries du Rhin“ habe ich der Kunsthistorik entlehnt, denn unter den unzähligen bildlichen Darstellungen der Gottesmutter in Europa und in Deutschland ragt eine Gruppe ganz besonders heraus: Es sind die Madonnen im 13. – 15. Jahrhundert entlang des Rheins, welche bis heute die Betrachter mit ihrem selig lächelnden Gesichtsausdruck bezaubern. Seinen Ursprung hat dieses Lächeln vermutlich in den Kölner Reliquienbüsten der Heiligen Ursula und ihrer Gefährtinnen, die wir heute noch in der Kirche St. Ursula in Köln bewundern können. Die Lieder dieser Epoche hören sich wie eine musikalische Übersetzung dieser Mariendarstellungen an und zeigen deutlich eine große kulturelle Verwandtschaft, denn im Mittelalter gab es die heutigen nationalen Grenzen zwischen Deutschland und den Niederlanden noch nicht und so war das Gebiet „van der Masen tot op den Rijn“ eine große zusammenhängende Kulturlandschaft.

Im Jahre 2006 schickte mir Ike de Loos (Utrecht) das Manuskript Berlin 190 zu, an dem sie mit einer Gruppe von Musikwissenschaftlern arbeitete – in der Hoffnung, daß ich etwas damit anzufangen wüßte. In der Tat! Meine Recherchen des rheinischen, niederrheinischen und niederländischen Liedrepertoires erfuhr so eine wundervolle Bereicherung. Für „Les Maries du Rhin“ war es mir so möglich zwischen den Liederbüchern hin und her zu blättern und so auch Melodien von Liedern zu entdecken, die z.B. im Liederbuch der Anna von Köln ohne Melodie überliefert waren: es war eine reiche Beute!

Ike de Loos hätte für diese CD den Booklet-Text schreiben sollen – doch sie verstarb 2010. Stattdessen hier nun der Text, den sie für mich verfasste, als es darum ging, eine Koproduktion mit dem WDR anzustreben.

Maria Jonas, Köln


Ms Berlin 190 – ein Liederbuch von Nonnen der Devotio Moderna

Ms 190 Berlin ist eine kleine Pergamenthandschrift, die eine Sammlung religiöser Lieder in Latein und Mundart enthält. Sie datiert aus dem späten 15. Jahrhundert und stammt aus der Region von Utrecht. Höchstwahrscheinlich gehörte sie einem Frauenkloster (möglicherweise eines des Dritten Franziskanischen Ordens) der Devotio Moderna, die eine sehr einflussreiche Glaubensbewegung in den Niederlanden war.

Berlin 190 ist nicht einzigartig in ihrem Genre. Es gibt mehrere Liederbücher der Devotio Moderna, wie das Liederbuch der Anna von Köln. Berlin 190 ist jedoch aus mehreren Gründen bemerkenswert. Es ist eine sehr große Sammlung, die nicht nur mittelniederländische Lieder enthält, sondern auch einige monodische und polyphonische (hauptsächlich zwei- aber mitunter auch drei-stimmige) lateinische Lieder. Mehrere dieser Lieder sind liturgisch oder paraliturgisch. Da sind zum Beispiel einige Benedicamus-Verse, tropierte Kyrie-Gesänge, polyphonische Vertonungen von Hymnen, Verse zu marianischen Antiphonen wie Salve regina, Aver regina celorum sowie eine marianische Paraphrase des Te Deum (Te matrem Dei laudamus, Te dominam confitemur) etc., die zeigen, dass die Handschrift in der Liturgie oder im direkten Zusammenhang mit der Liturgie benutzt wurde. Sie enthält außerdem Weihnachtslieder, Lobgesänge für die Jungfrau Maria und für eine kleine Zahl von Heiligen, die besondere Verehrung genossen (z.B. Barbara, Katharina und Nicolas).

Die mittelniederländischen Lieder behandeln Themen wie Reue, Warnungen vor den Gefahren der Welt sowie Ratschläge, sich auf das Jenseits und die Vereinigung mit dem Bräutigam zu freuen. Alle mittelniederländischen Lieder sind Kontrafakturen weltlicher Lieder; viele werden von einer Überschrift begleitet, die die anzuwendende Melodie erwähnt. Kontrafaktur war die übliche Technik für dieses Genre des geistlichen Gesanges; dies ermöglichte nicht nur jedem, sogar nicht ausgebildeten Sängern, mitzusingen, sondern half frommen Menschen weniger tugendhafte Wörter aus ihren Köpfen zu verbannen, wie die folgende Anekdote verdeutlicht: Dirc van Herxen, Rektor der Brüder vom gemeinsamen Leben in Zwolle, fühlte sich belästigt durch eine Magd, die eine profane Weise sang. Er schrieb einen frommen Text zur Melodie, zuerst in Latein (“Me juvat laudes canere praeclarae castitatis”) und dann in Niederländisch (“Mi lust te loven hoghentlijc die reynicheit so pure”), in der Hoffnung, der fromme Text möge sich im Gedächtnis der Sängerin festsetzen und die originalen Wörter, die offensichtlich seine Wertschätzung nicht verdienten, ersetzen.

Das niederländische Lied “Mi lust te loven hoghentlijc die reynicheit so pure” ist in Berlin 190 erhalten und die begleitende Überschrift gibt uns den Namen der Vorlage: “Ons is lerlenghet een deels den dach. Ons doet ghewach cleyn woutvoghelkijn, der maerl.” Nebst “Die werelt hielt mi in hair gewout” von einer Nonne der Devotio Moderna namens Suster Bertken (Schwester Berta), die über 50 Jahre als Einsiedlerin in einer Klause in Utrecht lebte, ist es eines der interessantesten weltlichen Lieder in Berlin 190. Suster Bertken ist die bekannteste Einsiedlerin der Niederlande, die uns einige Lieder, Gebete und Meditationstexte hinterlassen hat.

So schön die weltliche Lieder aus Berlin 190 auch sein mögen, so sind ihre lateinischen Lieder doch ebenso bemerkenswert. Da keine Gesamtausgabe der Handschrift existiert, hat dieser Teil des Repertoires bislang wenig Beachtung gefunden, da es schwer war, sich ein klares Bild davon zu machen. Es gibt organum-ähnliche Stücke mit einer Stimmführungstechnik, die in das 12. Jahrhundert zurück datiert, sowie jüngere Stücke mit Kontrapunkt, die in Ars-Nova-ähnlichen Stilen des 14. oder 15. Jahrhunderts verwurzelt sind. Die Formen mehrerer Lieder weisen auf weltliche Genres: kleine Balladen- und Virelai-ähnliche Lieder – wie die Niederländischen Lieder sind viele der lateinischen polyphonischen Stücke offensichtlich Kontrafakturen.

Durch ihr überwältigend reiches und vielfältiges Repertoire gibt uns Berlin 190 eine wunderbare Einsicht in die Musik und Poesie des religiösen Lebens im Spätmittelalter – und führt uns auf diesem Weg in die Welt eines Nonnenklosters der Devotio Moderna des 15. Jahrhunderts.

Dr. Ike de Loos (†2010), Utrecht, Mitglied des Berlin 190 Redaktionsteams