Divinum misterium

Für eine Frauenschola wie Ars Choralis Coeln liegt es nahe, sich dem Repertoire von Frauenklöstern zu widmen und es sich anzueignen, zumal wir immer wieder nach Konzerten oder Workshops gefragt werden, ob wir diese Musik überhaupt singen dürfen, ob das Singen in der Kirche nicht allein Männern vorbehalten sei.

 

Frauen haben natürlich immer auch in der Kirche gesungen! Davon geben zahlreiche Codices aus Klöstern oder Beginenhöfen klingendes Zeugnis. Neben der mittlerweile etablierten Musik einer Hildegard von Bingen (1098-1179) finden wir in ganz Europa zahlreiche Frauenklöster, die wertvolle Handschriften mit Gesängen zur Liturgie hinterlassen haben.

 

Als eines der prominentesten Frauenklöster ist hier sicher die königliche Zisterzienserinnenabtei in Burgos „Santa María la Real de Las Huelgas“ zu nennen. Die Äbtissinnen des Kloster hatten eine Sonderstellung inne. Sie trugen den Titel „Prelatus“ und waren die Administratorinnen der königlichen Stiftung. Somit waren sie Herrinnen über 60 Herrschaften und Ortschaften. Sie konnten Männer zur Priesterweihe zulassen, Pfarrer bestellen, Beicht- und Predigtvollmacht erteilen. Das zisterziensische Generalkapitel übertrug ihnen zudem 1189 die Obrigkeit über das Königreich Leon und Kastilien. Ihre bischöflichen Vollmachten wurden 1873 abgeschafft.

 

Der Codex Las Huelgas wurde 1904 von zwei benediktinischen Mönchen wieder entdeckt. Da es sich bei dem Kloster Las Huelgas um eine Marienkirche handelt, überrascht es nicht, dass die meisten Gesänge der Gottesmutter gelten.

 

Entstanden im 13./14. Jahrhundert weist der Codex zeitgenössische Einflüsse auf, basierend auf der in ganz Europa praktizierten Musik der Gregorianik. Neben vielen monodischen Sequenzen finden sich ein- bis dreistimmige Tropen in Form von Conducti und Motetten. Nur wenige Stücke kann man Komponisten oder Textdichtern zuordnen (Johannes Roderici, Perotin, Philipp dem Kanzler), viele stammen aus dem Umfeld der Notre Dame-Schule.

 

Da der Codex Las Huelgas ein Missale mit liturgischen Gesängen zur Gestaltung der Gottesdienste ist, entspricht auch unsere Programmstruktur in etwa dem Aufbau einer heiligen Messe: der „Missa de Beata Virgine“.

 

Allerdings erlaubten wir uns bei der Gestaltung des heutigen Programmes gegenüber der Messliturgie ein paar Freiheiten; so gehört beispielweise der Tractus „Quis dabit“ strenggenommen nicht in eine marianische Messe hinein. Er wurde während den Trauerfeierlichkeiten für die Äbtissin Maria Gonzales Aguero (1319 – 1333) gesungen, die mit großer Sicherheit den Auftrag für die Erstellung des Codex Las Huelgas erteilt hat. Wir wollen ihrer mit diesem Stück in unserem Konzert gedenken.

 

Beim Recherchieren und Transkribieren war es immer wieder faszinierend festzustellen, wie sehr die damaligen Musiker ihre neue Musik auf die bekannten gregorianischen Gesänge aufbauten: sei es mit volksliedartigen Tropen, sei es versteckt in einem dreistimmigen Stück. Eine wahre Entdeckungsreise!

 

In die mittelalterliche Marien-Messe aus dem Codex las Huelgas integrieren wir in diesem Programm traditionelle Offertorien aus der Provinz Salamanca.

 

Hier, in der spanischen Provinz Salamanca, findet man eine der ältesten Musiktraditionen Europas, die selbst heute noch praktiziert werden: gaita y tamboril (Einhandflöte* und Trommel). Diese im Mittelalter so popuären Instrumente verschwanden in Europa im Laufe des 16. Jahrhunderts, überlebten aber bis heute in Südfrankreich und in vielen Gegenden Spaniens. An besonderen Feiertagen kann man dort die „tamborileros“ auch heute noch erleben.

 

Zunächst geht der „tamborilero“ durch die Gassen der Dörfer, um die Leute zur Messe zu rufen (passacalles). Während der Messe dann spielt er zur Gabenbereitung. Die Musik dieser Offertorien ist einzigartig und sehr speziell und hat auch nur dort ihren Platz. Melodien, Skalen und musikalische Phrasen gehen direkt auf lokale Traditionen zurück. Die Rhythmen sind keine regelmäßigen Tanzrythmen sondern unregelmäßig und werden oft von Improvisationen unterbrochen. Es ist eine rituelle Musik, deren Wurzeln in Form und Funktion aus den regionalen Musiktraditionen stammen, die weit ins Mittelalter reichen.

 

Wahrscheinlich überrascht uns heute die Auswahl der Instrumente: gaita y tamboril. Doch im Mittelalter war diese Besetzung nichts Ungewöhnliches. Sie war in ganz Europa sehr verbreitet und genauso häufig vertreten wie beispielweise Harfe, Fidel oder Dudelsack. Einhandflöte und Trommel wurden bei vielen Gelegenheiten gespielt: sowohl im Krieg als auch zum Tanz, in armen Hütten, in prächtigen Schlössern, in Kirchen, bei Prozessionen, auf Hochzeiten.

 

Wenn es auch immer das Bemühen der offiziellen Kirche war die Messe zu standardisieren, so wissen wir doch, dass sie im Mittelalter durch lokale Musik und Musiker erweitert und bereichert wurde. Die Prozessionen konnten von Musikern begleitet werden; eine Flöte improvisierte vielleicht eine instrumentale Estampie, die aus einem Alleluia entstand. Es gab Gemeinden, die ihre Hymnen und Sequenzen gerne rhythmisch sangen. Und natürlich gab es auch die bereits erwähnten instrumentalen Offertorien mit ihrer ganz eigenen Musik. Diese kann man heute noch in den Kirchen einiger Ortschaften in Salamanca hören und ebenso in unserer „Missa de Beata Virgine“ aus dem Codex Las Huelgas – als ein doppeltes Echo des Mittelalters.

Maria Jonas und Poul Høxbro

 

* Die Knochenflöte „gaita“, die in diesem Konzert gespielt wird, stammt aus der Nähe der Stadt Rodrogo im östlichen Teil der Provinz Salamanca. Sie basiert auf der phrygischen Tonleiter und ist aus einem Gänseknochen gearbeitet. Der Flötenbauer heißt José Maria Valiente – einer der wenigen, die diese Tradition weiterführen. Eine Tradition, möglicherweise eine der letzten In Europa in dieser Art.

 

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Besetzung:

Ars Choralis Coeln

als Gast Poul Høxbro - Einhandflöte und Trommel, Perkussion